Heutzutage wird einem alles erklärt. Gerade in Zeiten von Youtube, Facebook, Twitter und der digitalen Verbreitung von Medien sind Informationen und Erklärungen schnell zu erlangen. Es gibt, so scheint mir, viel mehr Erklärungen als Leute, die es eigentlich wissen wollen. Dabei ist, im Nachhinein betrachtet, der Zweifel, gepaart mit dem  „Wissen-wollen“, der größte Motor für das Lernen.

Als ich angefangen habe mir die Gitarren von Songs herauszuhören war das Medium Cassettenrecorder gerade noch so eben en Vogue. Der lief aber meistens zu schnell oder zu langsam und jeder Musiker weiß, was das für die Tonart bedeutet:

„Ist das gerade noch in A, oder schon Bb?“

„Ist das Riff in A mit Leersaiten, in Bb mit Barreegriffen oder mit dem Capo gespielt?“

„O.K., die ersten 7 Töne habe ich, weiter geht´s…Mist, Bandsalat!“

Mein erster Gitarrenlehrer hat mir sehr viel erklärt, aber nie irgendwelche Riffs, Soli oder gar Songs herausgehört oder gezeigt. Ich habe bei ihm Akkordaufbau, Tonleitern, Modes, Stimmführung  und Gehörbildung gelernt. Was ich spielen können wollte, musste ich selber raushören.

Ich kann mich daran erinnern als 16Jähriger (also vor knapp 10 Jahren) in meinem Zimmer gesessen zu haben mit dem Vorsatz das erste Gitarrensolo von „Rosanna“ lernen zu wollen. Es gibt 2 Soli in dem Song  und das erste schien mir erreichbar. Jetzt für Gitarristen: Es gibt da die eine Stelle, wenn man die  H-Saite bendet (Ganzton) und dahinter noch den kleinen Finger aufsetzen muss für einen zusätzlichen Halbton. Ich wusste wie es geht weil ich einmal das Lehrvideo von Steve Lukather gesehen hatte…einmal!… Wochen vorher.

Was soll ich sagen: Es klang Scheisse! 😉

Ich hatte keine Ahnung wie Steve Lukather das hinbekommen hat, aber bei mir klang es einfach nicht. Es war immer schief, so oft ich es auch versucht habe. Die Haut an Ring- und kleinem Finger der Greifhand war feuerrot und ich wollte nicht aufgeben. Der Trick, den ich nach Stunden herausbekommen habe, war simpel: Durch das Aufsetzen des kleinen Fingers hinter dem Bending, verliert man den Ringfinger aus den Augen und der Ton sackt ab. Man muss ihn wieder ein Stück  „nachrücken“, oder im Auge behalten. Diese Erkenntnis hat mich 3 Stunden und gekostet und mich fast um mein Erbe gebracht („Geht das da oben jetzt mal etwas leiser?!“).

Zweites Beispiel: Ich wollte unbedingt wissen, wie das Solo von „Senza una Donna“ von Paul Young/Zuccero  ging. Abgesehen davon, dass die Legatotechnik und das Timing so was von auf den Punkt sind, ist es das perfekte Beispiel für ein Solo, das „Song im Song“ ist. Es setzt ein völlig eigenständiges Highlight und passt doch perfekt zu dem Lied. Ich weiß nicht mehr, wer es gespielt hat. Vielleicht weiß es jemand? Zum Raushören ist es allerdings viel zu schnell. Und gerade weil auf der Gitarre der gleiche Ton in der gleichen Oktave mehrfach existiert, muss man bei so komplizierten Nummern den Fingersatz und die Position auf dem Griffbrett herausbekommen, sonst ist es unmöglich zu spielen. Ich habe also meinen Vierspurrekorder angeworfen und das Solo „gedropt“. Hä?  Is `n das? Ganz einfach: Durch Verlangsamen der Bandgeschwindigkeit konnte man die Aufnahme um ungefähr 3 Halbtöne absenken, um (ungefähr!) 3 Halbtöne. Das reichte aber nicht. Ich musste es 3 Mal machen, bis die Töne halbwegs zu erkennen waren. Ab da kann man dann aber auch nur noch raten, weil das  eigentlich gar keine Tonart mehr ist, sondern SETI-Signale aus dem All….die zwischen A und Bb festhängen! Aber am Ende habe ich  alle Töne herausbekommen. Dann hat es allerdings noch Tage gedauert bis ich es zusammenhängend spielen konnte…und Wochen bis ich es auf Tempo hatte.

Das gleiche  gilt für die Soli von:

-Sultans of swing/Dire Straits

– Hotel California/Eagles

– Jump/Van Halen

– Smoke on the water/Deep Purple

– Rose Room/Charlie Christian

–  und viele andere.

Keines dieser Stücke ist leicht herauszuhören oder zu spielen. Man muss sehr oft „zurückspulen“ (Sorry, Cassttenrecorder-Slang)und noch mal hören…und dann noch 20  Mal. Ausprobieren, verwerfen, noch einmal neu denken…sozusagen learning-by-dying…;-)

Also, jetzt mal ernsthaft. Das klingt doch alles ziemlich nerd-mässig. Was ist  so toll daran, sich stundenlang vor eine Aufnahme zu setzen und die ganze Zeit NICHT zu wissen, ob das, was man da raushört, wirklich stimmt?

Antwort: Ich habe, als ich noch wenig Wissen hatte, in diesen Stunden viel mehr über die Gitarre gelernt als ich es mit einem Songbook/Lehrbuch/Youtube-Video jemals hätte lernen können. Über das Try-and- Error Prinzip kommt man ungeplant an Ideen (sogar Songideen) und Wissen, das sich irgendwann (und man weiß nicht wann) ergänzen wird. Diese Zeit ist nie vertan. Jeder Gitarren-/Drum-/Bass-/Triangelheld hat diese endlosen Stunden alleine verbracht (und verbringt sie noch), angetrieben von der Neugier etwas wissen zu wollen und der Idee, wie unglaublich cool dieses Instrument klingen kann.

Was Du auf der Bühne von jemandem siehst, und was Dich fasziniert, ist nur das Ergebnis dieser Zeit.

– „Bei Dir sieht das alles so leicht aus!“ „Danke, Baby, aber Du hättest das mal vor 15 Jahren sehen sollen…“

Ein perfekter Tag beginnt für mich mit 2-3 Stunden Üben auf dem Instrument…und 3 Tassen Kaffee. Ich beschäftige mich dann im Idealfall, wenn ich nicht gerade für ein Projekt üben muss, nur mit Dingen, die ich NICHT kann. Erst das Zweifeln, Überlegen und Tüfteln bringt mich weiter. Das Hochgefühl, das man von Zeit zu Zeit dadurch erlangt, dass man etwas Neues kann/verstanden hat, ist unvergleichlich. Hierfür gibt es keine Abkürzung…oder ich kenne sie nur nicht…;-)

Wenn es zu leicht zu erreichen ist, erweitert es nicht meine Grenzen. Um Weiterzukommen  ist diese Zeit, die man alleine über dem Instrument verbringt unbedingt nötig.

So, jetzt aber Schluss, ich muss noch ein YouTube-Lehrvideo machen…

 

Danke fürs Lesen und bis bald!

Udo